Brunnenviertel. Hier wird gewohnt.
Nach einem gelungenen Auftakt setzt die Initiative IN MITTE FÜR MITTE die Veranstaltungsreihe mit einem Besuch des Brunnenviertels fort. Unter dem Motto „Hingehen!“ waren Unternehmen aus Mitte eingeladen, sich selbst ein Bild dieses Wohnquartiers mit seinen 13.000 Einwohnern zu machen. Hier sind heute viele Fassaden frisch gestrichen, die Probleme im Viertel sind erst bei näherem Hinsehen zu erkennen.
Los ging es um 8.00 Uhr mit einem Kiezspaziergang, geführt von Herrn Naziri vom Quartiersmanagement, einem ausgewiesenem Kenner des Viertels. Besucht wurden Einrichtungen, die an der Verbesserung der Lebensqualität arbeiten. So wie der Basketballverein „Weddinger Wiesel“ als einer der wenigen lokalen Sportvereine. In der nahen Heinrich-Seidel-Grundschule erklingt Wohlfühlmusik in der Eingangshalle und heute ist Flüstertag. Diese ruhig angenehme Atmosphäre ist wichtig. Denn das erfolgreiche Engagement für „Deutschlernklassen“ bringt die Schule an die Grenzen ihrer Kapazitäten.
Zur Verbesserung der Lebensqualität wurde 2005 das Quartiersmanagement Brunnenviertel-Brunnenstraße eingerichtet. Die Ideen werden mit den Anwohnern gemeinsam entwickelt. Viele Initiativen wie der Nachbarschaftsverein Brunnenviertel e.V., die das Zusammenleben prägen und Sinn stiften sollen, erhalten hier tatkräftige Unterstützung.
Im begrünten Hinterhof einer Islamischer Kita muss der Spielplatz den Neubauten am Mauerpark weichen. Hier ist die Losung der modernen Stadtplanung: Bebauungsverdichtung bei einer Mischung aus Luxus- und sozialem Wohnungsbau. Schuldnerberaterin Susanne Wilkening ärgert sich über den Begriff „sozialer Wohnungsbau“. Denn auch diese Mieten sind einschließlich Betriebskosten mit Hartz IV nicht finanzierbar.
An der Putbusser Straße liegt das ehemalige Diesterweg-Gymnasium. Der Schließung der Schule fiel 2011 auch die dort ansässige öffentliche Bibliothek zum Opfer. Heute wird lediglich noch die Sporthalle vom SV Wedding 1862 e.V. genutzt. In der Zukunft sollen dort ein Gemeindezentrum und zusätzliche Wohnungen entstehen. Im Nachbarschaftstreff des neu aufgebauten Olof-Palme-Zentrums gibt es zahlreiche Angebote für Jung und Alt, von der Kiezwerkstatt bis zum Mehrzwecksaal. Die intensive Nutzung der Einrichtung zeigt die gelungene Neukonzeption ebenso wie den Bedarf nach einer Stätte für Begegnung und Aktivitäten.
Am Beratungspavillon der degewo endete der Kiezrundgang. Diese Einrichtung entstand als Reaktion auf eine große Spielhalle und die degewo bietet hier inzwischen zusätzlich zur Suchtberatung auch Renten-, Sozial- und Schuldenberatung. Bei Kaffee und Croissants schilderten die Renten- und Sozialberaterin Alma Evert und Susanne Wilkening, die Leiterin der AWO Schuldner- und Insolvenzberatung im Rathaus Yorkstraße, typische Beispiele aus ihrer Tätigkeit.
Etwa 75 % der Ratsuchenden haben keine „normalen“ Arbeitsbiografien, sie sind seit Jahren arbeitslos. Zur Arbeitslosigkeit kommen im Laufe der Jahre gesundheitliche Einschränkungen, die die Chancen auf Arbeitsaufnahme immer kleiner werden lassen. Sehr oft verlangt das Jobcenter dann den Wechsel in Erwerbsunfähigkeits- oder Erwerbsminderungsrente. Erst kurz vor Ablauf aller Fristen wenden sich die Menschen dann an Alma Evert. Die ist oft erschüttert von den Bildungs- und Erwerbsbiografien von Frauen: die typische ratsuchende Frau hat selten bezahlte Arbeit oder einen Beruf und hat mehrere Kinder zu erziehen. Die Hürden zur Entfaltung der Potenziale junger Frauen zu beseitigen, muss als eine gesellschaftliche Hauptaufgabe angesehen werden.
Der Verlust der Arbeit steht häufig am Beginn einer Überschuldung. Steigen die Mietkosten und das Wohnen ist nicht mit den Transferleistungen finanzierbar, so kommt es leicht zu existenzbedrohenden Miet- und Energieschulden. Eine Privatinsolvenz ist unumgänglich. Entgegen gängiger Meinung lohnt sich Arbeit auch bei Privatinsolvenz, betont Susanne Wilkening. Denn der Selbstbehalt ist weit höher als allgemein angenommen.
Dass Langzeitarbeitslosigkeit die Menschen verändert, ist keine neue Erkenntnis. Sie fördert eine „Versorgungsmentalität“ und macht hilflos bei komplexen Anforderungen. Für Rat und Hilfe im Notfall stehen Menschen wie Frau Evert und Frau Wilkening bereit. Aber alle Anwesenden waren sich einig, dass nur der Übergang in Bildung und Beschäftigung das probate Mittel ist. Hierfür müssen alle Teile der Gesellschaft gemeinsam noch mehr Anstrengung und individuelles Engagement aufbringen.